Einen Eisklumpen statt einen Kühlschrank

Einen Eisklumpen statt einen Kühlschrank
Als im Lauerzersee noch Eis gewonnen wurde und Dutzende Mannen einen Zusatzverdienst hatten

Heute eine Selbstverständlichkeit, vor 50 Jahren hingegen noch eine Rarität und ein Zeichen des Fortschrittes: der Kühlschrank. Doch schon Jahrzehnte zuvor musste der Mensch nicht auf diese Annehmlichkeit verzichten: Gekühlt wurde mit dem Naturprodukt Eis. Zu diesem Zwecke gewannen verschiedenste Unternehmer Eis aus den gefrorenen Seen. Dieses wurde in natürlichen Kellern ein- bzw. zwischengelagert. Federführend in der Eisgewinnung waren vor allem Bierbrauereien. An ihre Getränkeabnehmer lieferten sie die Dienstleistung ‚Kälte’ gleich mit. Später kam zum Natureis technisch-produziertes Kunsteis dazu. Lange Zeit eine grosse Bedeutung hatte das ‚Iischä’ auf dem Lauerzersee.

Von Peter Rickenbacher

Das wissen alle: der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg und der Erfindergeist brachte vor einem halben Jahrhundert in Industrie, Gewerbe und Haushaltungen zahlreiche Erleichterungen. Das Unabhängigwerden von den Launen der Natur war in Mode. Man holte die Kälte in den Sommer und die Wärme in den Winter. Doch in der Zeit davor war alles noch ganz anders… Alles war Handarbeit. Auch die Beschaffung von ‚Kälte’: ‚iischä’ nannte man die Gewinnung von Eis. Das alte Handwerk verlor Ende der 1950er-Jahre mit dem Aufkommen von serienweise hergestellten Kühlschränken sowie Gefrier- und Kühllager seine Existenz. Die nicht ganz ungefährliche Arbeit wurde eingestellt. Wenige noch können sich heute an jene Zeit zurückerinnern, als auf dem Lauerzersee zahlreiche Mannen ‚iischneten’. Auch in Rothenthurm wurde eine Zeit lang Natureis gewonnen; im Unterdorf, aber auch im Hochmoorgebiet wurden dazu extra Weiher angelegt. Das Rothenthurmer Natureis war auch von guter Qualität. In Spitzenjahren seien bis zu 1000 Eisenbahnwagen mit Natureis aus dem Bergdorf gewonnen worden.

Bierbrauereien und Selbständige
Federführend in der Eisgewinnung waren all jene Unternehmungen, welche Interesse daran hatten, ihre Produkte ‚gekühlt’ abzusetzen. Allen voran waren es die Bierbrauereien. Zu ihnen gehörten aus der Region die Bierbrauerei ‚Bättig’ (Depot Wädenswiler Bier) in Unterseewen, aber auch die Brauerei Pfyl (Depot Eichhof Bier) oberhalb des Hotels Drei Könige in Schwyz. Dann Gab es auch noch selbständige Eisgewinner wie etwa Kari Föllmi aus Ingenbohl-Brunnen. Diese holten als freie Unternehmer – teils auch im Auftrag von Bierbrauereien – mit eigenen Eismannen das glasklare Gut aus den Seen und verkauften es weiter.

Eine Dienstleistung
Es gehörte einfach dazu: Um ihre Eigen- und Handelsprodukte gut verkaufen zu können, waren Zusatz-Dienstleistungen nötig. Nebst dem eigentlichen Produkt (beispielsweise Bier) erwarteten die Abnehmer – meistens waren dies Gastbetriebe – Verkaufsunterstützung. Konkret ford
erten sie Eis, um den Gerstensaft in den Gasthäusern ‚kühl und frisch’ auftischen zu können. Die Buffet-Anlagen in den Wirtshäusern waren dazumal so konzipiert, dass neben dem hölzernen Bierfass oder den Bügelverschluss-Flaschen ein ‚Eisschrank’ angelegt war. Dieser bestand meistens aus Holz und hatte eine blecherne Schublade. Der Eisblock wurde neben das Bierfass oder die Flaschen hingestellt, womit das Bier eben auch in der wärmeren Jahreszeit recht kühl gehalten werden konnte. Das wurde von der Kundschaft sehr geschätzt, förderte den Verkauf und trug erst noch zur längern Haltbarkeit des Gerstensaftes bei.

Voraussetzung: 20 cm Eisdicke
Begonnen hatte die Ernte von Natureis aus den Seen (s’iischä) jeweils mit der Einwinterung. Meistens aber erst nach Neujahr. Seiner Grösse und geringen Tiefe wegen gehörte der ‚Lowerzersee’ seit Urzeiten schon jeweils zu jenen, die rasch frieren und schnell eine Eisdecke bilden. Daher gehörte der Lauerzersee zu jenem Typ See, welcher als einer der ersten im Winter Eis hergab. Das Eis musste mindestens 20 cm Dicke aufweisen, ansonsten sich niemand auf die glatte Fläche wagte. Unfälle gab es sehr selten, höchstens einmal nasse Schuhe und Kleider… Man war eben sehr
vorsichtig. Das Eis bildete sich am schnellsten in kristallklaren Nächten bei deutlichen Minus-Temperaturen. Nicht selten wuchs es über Nacht um bis zu 5 cm! Es durfte aber kein Schnee darauf liegen; sobald dies der Fall war, nahm es an Dicke fast nicht mehr zu. Einer, der selbst noch aktiv bei der Eisgewinnung aus dem Lauerzersee dabei war, war ‚Iischer’ Wilfried Annen aus Lauerz. Er  erinnert sich, dass im Februar 1957 das Eis rekordverdächtige 38 cm mass und daher sehr ergiebig war.

Zwischenlagerung im ‚Bierchäller’

Annen ‚iischte’ in der Gruppe ‚Bättig’. Diese ging vor allem im Gebiet unmittelbar vor dem heute noch existierenden Gebäude ‚Bierchäller’ (erstellt 1894 und 1909 erweitert) zwischen Seewen und Lauerz ihrer Tätigkeit nach. Ihre ‚Eisbeute’wurde vorwiegend in eben jenes Gebäude (18 m Länge x 5 m Breite x 5 m Höhe) gebracht, welches genau auf einem Luftstrom erstellt wurde, der das ganze Jahr über konstant tiefe Temperaturen (max. 10 Grad Celsius) aufweist; ideal für die Lagerung von Eis. Dann gab es eine Gruppe ‚Föllmi’, welche weiter Richtung Seewen Eis gewann. Ihr gehörten die beiden Urmibergler Alois und Toni Inderbitzin (s’Lützlers vom Urmiberg) aus Seewen an. Kari Föllmi hatte am See kein Zwischenlager, weshalb das Eis unmittelbar nach seiner Gewinnung auf ein Fuhrwerk gehievt und von einem Pferdegespann wegtransportiert wurde. Das Ziel war entweder ein anderer ‚Bierchäller’ in einer andern kühlen Fels/Bergnische oder dann der Bahnhof in Seewen. In Rekordwintern der Eisgewinnung wurden in Seewen ganze Eisenbahn-Wagen mit Lauerzersee-Eis gefüllt und an die interessierten Empfänger spediert. 

Harte, kalte, saubere Arbeit
Für die eigentliche Eisgewinnung
war nicht viel technisches Hilfsmittel notwendig: warme Kleidung, Eissägen (wurden manchmal auch zum ‚holzen’ im Wald benutzt), ein Metermass, Holzlatten, Stickel (mit Eishaken an der Spitze) eine grosseLeiter, Proviant und Manneskraft. Ein ‚Vorarbeiter’ markierte entlang von 6 Meter langen Holzlatten die Schnittfläche: Bahnen zu 60 cm Breite und 6 Metern Länge. Die Arbeiter schnitten dann – in Reih und Glied stehend – Blöcke heraus, die dann alle etwa 60 auf 60 cm Grösse massen. Anschliessend wurden diese mit einem Flötshaken aus dem Wasser auf ein ‚Gleit’ (Holzrutsche) gestossen und auf diesem Richtung Ufer geschoben. Von da an setzte die Schwerarbeit ein: Es galt, die Eisblöcke auf der ‚Rutsche’ auf das Niveau der Strasse hoch zu schieben. Das war nicht immer ganz einfach. Je nach Eisdicke wogen die Blöcke 20 bis sogar 40 Kilogramm. Alleine oder zusammen in kleinen Teams wurde dazu ein langer Stickel angesetzt und die Eisklumpen hochgeschoben. Von da weg wurde es entweder auf ein bereit stehendes Pferde-Fuhrwerk und später auf ‚moderne’ Lastwagen für den Weitertransport gehievt oder dann direkt in den unteren ‚Bierchäller’ hinten an der Strasse ‚spediert’. Dort wurden die Blöcke aufgeschichtet. Dazwischen wurde immer eine Handvoll Sägemehl gestreut. Dieses diente dazu, dass die Blöcke nicht ‚verklumpten’.

Wehmütiger Rückblick
Das Eis aus dem Lauerzersee war beliebt: es wu
rde lange Zeit noch dem Kunsteis vorgezogen. Es war eben von besonderer Härte. Doch der Fortschritt war nicht mehr zu stoppen, die Nachfrage nach Natureis zu Kühlzwecken ging unaufhörlich zurück. Ein Berichterstatter einer Illustrierten schrieb 1947: „So ist auch die Eisausbeute auf unsern kleinen und grössern Bergseen zu einem unbedeutenden Erwerbszweig zusammengeschmolzen. Eismaschinen produzieren nun jederzeit ohne Rücksicht auf die Jahreszeiten so viel Eis als Brauereien, Metzgereien, Restaurants, Spitäler u.a. bedürfen. Kein Bierbrauer denkt heute im Ernst mehr daran, dem Bund einen Eis liefernden Gletscher abzukaufen. Wer schon Gelegenheit hatte, einer Ernte natürlichen Eises zuzusehen, wird den Fortschritt der Kältetechnik schon um des reizvollen Bildes willen bedauern, das eissägende Männer auf der weissen Seefläche bieten. Und alte wetterfeste Bergbauern denken mit Wehmut an jene Eisblütezeit der 1890er-Jahre zurück, da es in kalten Wintern auf den Bergseen noch von Eissägern und an den Ufern von Eisfuhrwerken wimmelte und wochenlang lohnender Verdienst aus dem abgaben- und steuerfreien Produkt der Natur gezogen wurde.“

Noch 1947 wurden täglich auf dem Lauerzersee etwa 80Tonnen Eis geerntet (Rekordwinter 1902: 350 Eisenbahnwagen voll!). 60 Jahre zuvor, 1887, deckte die gesamte Eisausbeute von Gletschern und Bergseen noch den Bedarf von 1 Million Zentnern für 40 Bierbrauereien.impg0252 (1)

1. Schritt: Ein Arbeiter markiert die Schnittbreite der Eisblocks auf dem Eis ein.

impg0254 (2)

2. Schritt: Eine Holzlatte ‚hält’ die geschnittenen 60 x 60 cm grossen Eisblöcke zusammen.

impg0250 (3)

3. Schritt: Mehrere Männer schneiden die 6 Meter langen Eisblöcke in 60 cm kurze Stücke.

impg0253 (4)

 

4. Schritt: Ein ‚Eiskreuz’ signalisiert den Schlittschuh-Läufern auf dem See die Gefahrenzone und bewahrt die Eismänner vor Unglück bei ihrer gefährlichen Arbeit.

impg0251 (5)

5. Schritt: Mit Flötshaken stossen mehrere Männer gleichzeitig die geschnittenen Eisblöcke auf ein hölzernes ‚Gleit’ Richtung Ufer.

impg0249 (6)

6. Schritt: Jetzt setzen die Männer mit ihren langen Stickeln zum Hochschieben der Eisblöcke auf der ‚Rutsche’ zur Strasse hoch an.

impg0256 (8)

8. Schritt: Oben auf der Strasse angelangt wurden die Eisblöcke in den ‚Bierchäller’ geschoben oder dann auf Fuhrwerke geladen und wegtransportiert.

impg0259 (9)

 

Alois und Toni Inderbitzin (s’Lützlers) aus Seewen erinnern sich, als wäre es gestern gewesen: sie waren selbst manche Winter bei der Eisgewinnung im Lauerzersee mit dabei.

 

impg0258 (10)

Der untere und der obere Bierchäller an der Lauerzerstrasse zwischen Seewen und Lauerz: Da drinnen wurde das geerntete Lauerzersee-Eis der Bierbrauerei Bättig aus Seewen eingelagert.

impg0257 (11)

Seit über 45 Jahren stehendie beiden Keller leer.

impg0263 (12)